Das Lächeln meiner Mutter

Im Winter 2008 findet Delphine de Vigan ihre Mutter Lucile tot in ihrer kleinen Sozialwohnung am Rande von Paris. Ihre Haut ist bereits blau-grau. Lucile hat mit 61 Jahren beschlossen, ihrem Leben ein Ende zu setzen. „Lucile starb, wie sie es sich wünschte: lebendig.“

Sie beendet damit ein Leben voller Freigeist und Schönheit, das jedoch immer von Schicksalsschlägen und Schmerz überschattet wurde. Der französische Titel des Buches lautet „Rien ne s’oppose à la nuit“. Das ist ein Zitat aus dem Chanson „Osez Josephine“ von Alain Bashung und Jean Fauque. Man könnte ihn mit „Nichts steht der Nacht entgegen“ übersetzen.

Ein deutscher Titel in dieser Art wäre dem Inhalt wohl etwas gerechter geworden als das liebliche „Lächeln meiner Mutter“. Denn ein Merkmal des Buches ist die große Ambivalenz seiner Figuren. Allen voran Lucile: sie ist klug und strahlend schön – auf dem Cover der deutschen Ausgabe zu sehen – doch innerlich völlig zerrissen. Über ihr liegt ein Schatten der Traurigkeit, später des Wahnsinns. In vielen Lebensphasen droht sie an ihrer bipolaren Störung zugrunde zu gehen. Sie scheint nicht von dieser Welt, dem Leben nicht gewachsen, betäubt sich mit Alkohol, Drogen und Psychopharmaka, verliert das Sorgerecht und fast alle sozialen Kontakte. Aber Lucile kommt immer wieder auf die Beine, nicht zuletzt für ihre beiden Töchter, Delphine und ihre kleine Schwester.

Die ganze Familie trägt diesen Widerspruch in sich. Für die Zeit der 50er und 60er Jahre lebt die Großfamilie sehr unkonventionell. Nach außen scheint sie schillernd und lebenslustig. Lucile und ihre Schwester sind als Kindermodels auf den Coverbildern französischer Modemagazine zu sehen, Vater George gründet eine Werbeagentur. Mutter Liane ist charismatisch und eigentlich immer fröhlich. Lucile und ihre neun Geschwister wachsen scheinbar paradiesisch in der behüteten Pariser Wohnung oder dem Sommerhaus im Süden auf. Doch die Idylle zerbricht spätestens mit dem tragischen Tod des kleinen Bruders von Lucile, der im Alter von sechs Jahren ums Leben kommt. Zwei weitere Brüder begehen im Laufe der Jahre danach Selbstmord. Der Vater begehrt seine Töchter auf zweifelhafte Weise: „Vielleicht ist das das Schwierigste, dass man Georges nie hassen, ihn aber auch nie ganz freisprechen konnte. Lucile hat uns als Erbe diesen Zweifel hinterlassen, und der Zweifel ist ein Gift.“

Die Beziehung von Delphine zu ihrer Mutter war schwierig: eine Mischung aus liebevoller Bewunderung und kühler Distanz. Doch bei allen Schwierigkeiten: das Buch ist eine Hommage an sie, ein „Sarg aus Papier“. Delphine erforscht das Leben ihrer Mutter anhand von Aufzeichnungen, durchforstet Notizen und Fotos, befragt die Geschwister Luciles nach ihren Erinnerungen. So fügt sie Puzzleteile der Vergangenheit zusammen und erhebt dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Allwissenheit. In ihre Erzählung schaltet sie sich immer wieder als Autorin dazwischen und stellt die Wahrheitsfrage. Sie gibt viel von sich selbst preis – ihren Zweifel, das Projekt durchzuführen, ihre Verlassenheit, das schwierige Verhältnis zur Mutter, den vielfach vorhandenen Wunsch, keinesfalls so zu werden wie sie.

So ist das Buch schonungslos und damit sehr authentisch und berührend. Es entwickelt einen Sog der Wahrhaftigkeit, dem man sich nicht entziehen kann. Die Seiten fliegen nur so dahin und lesen sich sinnlich wie ein Liebesroman und zügig wie ein Krimi.

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Link zum Verlag| www.geniallokal.de


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