Jetzt stillen wir unseren Hunger

„Als ich mir heute die Schuhe schnürte und mich für meinen täglichen zweistündigen Spaziergang fertig machte, gab es nicht den geringsten Hinweis darauf, dass ich schon auf halber Strecke eine Begegnung machen würde, von der ich jetzt in der Nacht, da ich diese Notizen mache, denke, dass sie mein gleichförmiges und in seiner Ereignislosigkeit zufriedenes Leben auf die angenehmste Weise erschüttert hat, und diese Erschütterung ist womöglich nur ein zartes erstes Zittern, verglichen mit dem Beben, das ihr, wie ich hoffe, ja mir jetzt in diesem Moment wie nichts wünsche, noch folgen wird.“

Es liegt Schnee in Kreuzberg. Tom Weinreich – gewohnheitsmäßiger Junggeselle, Müßiggänger, im Nebenberuf Fachmann für Personennahverkehr – geht am Landwehrkanal spazieren wie jeden Tag, immer denselben Weg, genau zwei Stunden lang. Dabei denkt er Spaziergangsgedanken, jeden Tag einen anderen. Seine größte Sorge ist, dass der Gedanke zu kurz ist für den Weg oder zu lang. Heute jedoch wird sein Gedanke von einer Fremden unterbrochen, die ihn anspricht. Tom weiß sofort: Sie ist die Seelenverwandte, auf die er schon längst nicht mehr zu hoffen gewagt hatte. Er lädt sie zu sich ein, und bei Rotwein, Käse und Brot reden sie über alle Dinge, die das Leben wirklich ausmachen. Sie unterhalten sich den ganzen Tag und die ganze Nacht über Bonn und Berlin, den Papst und den Zoo und den Friedhof in Kreuzberg, über Aufgeben, Aufstehen und Durchatmen, über ihre Besessenheiten und Merkwürdigkeiten, über Liebe und Glück. Und wie man sonst nur einem Traum verfällt, ergreift Mascha Besitz von Toms Denken und Leben. [KLAPPENTEXT]

jetzt-stillen-wir-unseren-hungerDas Prinzip Gehen und Denken ist nicht neu – wir finden es seit Aristoteles bei Goethe, Nietzsche oder Thomas Bernhard. Der Neurologe Prof. Dr. Gerd Kempermann weiß: Gehen fördert das Denken – nicht nur durch das Mehr an Sauerstoff oder eine inspirierende Umwelt, sondern aufgrund besonderer Eigenschaften der Nervenzellen im Hippocampus. Der dortige Gleichtakt der elektromagnetischen Impulse, der Wahrnehmung, Erinnerung und damit das Denken möglich macht, wird durch den Rhythmus des Gehens stimuliert  – allerdings nur, wenn sich die Beine freiwillig bewegen: Genusswandern macht also schlauer als ein erzwungener Pflichtmarsch.

Tom Weinreich ist überzeugter „Gedankenspaziergänger“. Ein wunderlicher Alltagswanderer und gescheiterter Wissenschaftler mit abstrusen Ideen innerhalb einer einsamen Revolte gegen seine unmittelbare Umwelt. Er verzweifelt an den allgemeingültigen, aber ihm abwegig erscheinenden Lebensentwürfen und Gesellschaftsformen seiner Mitmenschen, die dekadente Tischrunden abhalten, mit statussymbolhaften Feinkostschlemmereien und sterbenslangweiligen Gesprächen, die sich immer und immer wieder um die teuren und exotischen Zutaten und das entsprechende Kochinstrumentarium drehen.

Toms Leben wandelt sich von Grund auf, als er auf einer seiner täglichen Runden Mascha trifft. Sie schließt sich seinem Gehen und Denken auf gleicher Augenhöhe an. Die gemeinsame geistige Schlemmerei der beiden dreht sich um Philosophie, Musik, Kunst, Literatur, Theater und Wissenschaft, ihr erstes kulinarisches Mahl begnügt sich mit Wein, Käse, Salami und Brot.

„Am schönsten“, so Tom Weinreich, sei es „wenn man auf geistesverwandte Menschen trifft, mit denen man gemeinsam die Welt beobachten und ausschmücken kann, es ist ein großes Vergnügen zusammen mit einem anderen Menschen die Welt nach seinen Wünschen zu beschreiben.“ Damit meint Tom natürlich Mascha. Großer Kitschalarm, der durch die sogleich nachgeschobene kleine Geschichte über einen blöden Käfer etwas leiser wird. In dieser Szene offenbart sich die Grundstimmung der Geschichte, die sich zwischen sprachlich hochklassigem Kitsch und anspruchsvoll verzweifeltem Wahnsinn der beiden Hauptfiguren bewegt. Die Handlung ist klar umrissen, die Sprache poetisch, ein wenig altmodisch anheimelnd, immer wieder begleitet von unterhaltsamen Wortwürmern wie Glockenkirchenpfarrer, Wissenschaftsverunmöglichung oder Sprachvermeidungsabsicht.

Das Buch kommt um eine Betrachtung im Kontext der Werke Thomas Bernhards kaum herum. Dabei gehen die Meinungen, ob es sich um bewusste und offene Imitation, geschickte Satire oder ein Verschleiern der Vorlage handelt, auseinander.

Faktisch gibt es im Buch zwei direkte Hinweise auf eine bernhardsche Vorlage: in seiner Überschwänglichkeit nach dem Gespräch mit seiner eben getroffenen, großen Liebe Mascha, meint Tom: „jetzt denke ich, klar, ich könnte ohne weiteres ein Tschechow zumindest ebenbürtiges Stück schreiben, wenn nicht ein besseres… eines, zu dem Bernhard gesagt haben würde, das muss der Peymann inszenieren“.

2016-11-05-16-08-31.jpgEin andere Stelle bezieht sich auf eine Aktion des Möchtegern-Dramatikers Karl, Jugendfreund und große Liebe von Mascha, der gegen den Schauspieler Tiefnoth ein „Thomas Bernhard unterschobenes Haßpamphlet in die Theaterkreise lanciert“ hatte. Mascha berichtet, „Tiefnoth hätte in der Kantine des Berliner Ensembles verkündet, er wolle Bernhard verklagen, und er hätte sich damit natürlich bis auf die Knochen blamiert, weil Bernhard da schon lange tot gewesen sei“.

Doch es gibt neben den Anleihen bei Thomas Bernhard noch mehr intertextuelles Zusammenspiel. Mascha hat sich nach ihrem fundamentalen Zusammenbruch in ihrer selbstgeschaffenen neuen Identität, wie sie selbst sagt, bei Tschechows Die Möwe „ausgeliehen“. Tatsächlich scheint sie einiges mit der Tschechowschen Mascha gemeinsam zu haben: die Liebe zu einem egomanischen Schriftsteller, die stumpfsinnige, geistlose Ehe mit einem Beamten.

Uwe Betz wirft im Thomas Bernhard Jahrbuch 2003 dem Autoren ein imitatives „Bernhardisieren“ vor. Er findet es „fast unerträglich“, dass in einem stillschweigenden Imitieren Bauers, „Bernhards Poetik des Scheiterns“ abgeschwächt und eine „positivere Variante“ angelegt wurde. Ihm käme Bauers Roman wie eine „Thomas-Bernhard-Protagonisten-Therapierungsanstalt“ vor.

Nun bin ich vielleicht nicht Thomas-Bernhard-Kenner genug – für mich war das Buch durchweg originell, sprachlich herausragend und hat mich nebenbei dazu inspiriert, Tschechow und endlich mehr von Thomas Bernhard zu lesen. Eigentlich hätte ich jetzt auch gerne mehr von Christoph Bauer gelesen, doch Jetzt stillen wir unseren Hunger ist sein erstes und einziges Buch geblieben. Umso mehr wird es zu einem meiner persönlichen Buchschätze. Zumal es leider vergriffen ist, doch nachdem ich das geliehene Exemplar ausgelesen habe, habe ich mich sofort auf den Weg zum nächsten Antiquariat gemacht, um mir eine eigene Ausgabe zu besorgen.

Ich habe das Buch übrigens, wie so oft, nicht selbst entdeckt – es wurde mir von einer neuen Freundin empfohlen. Bestes Beispiel dafür, dass Buchempfehlungen Gold wert sein können, denn alleine wäre ich vermutlich niemals darüber gestolpert und schön auch der Moment, wenn man merkt, dass man mit Freunden einen bestimmten Buchgeschmack teilt, beziehungsweise, es Menschen gibt, die deinen Buchgeschmack kennen und einschätzen können, manchmal schon nach ein paar Gesprächen.

Ihr bekommt das Buch antiquarisch, zum Beispiel über:

Christoph Bauer, Jetzt stillen wir unseren Hunger, S. Fischer Verlag, 287 Seiten, Taschenbuch, antiquarisch ca. 5 – 10 Euro.

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