Tyll

Trotz Titel und Gauklermaske auf dem Cover: Tyll ist kein Roman über Till Eulenspiegel und die titelgebende Figur steht nicht einmal im Mittelpunkt der Erzählung.

Daniel Kehlmann hat seinen Tyll in die zerstörte Welt des Dreißigjährigen Krieges gesetzt. Er ist ein düsterer Schelm, mehr Freigeist als Narr und Überlebenskünstler in Zeiten von Pest und Krieg. Seine Komik ist grausam, derb und unheimlich, wie die damalige Zeit. Weil er zum fahrenden Volk gehört, darf er sich überall bewegen. Er ist das Bindeglied zwischen einfachen Leuten, Kurfürsten, kaiserlichen Botschafter und Königen.

Tylls Geschichte zieht sich durch das Buch, doch erzählt wird meist aus der Perspektive der anderen – in jeweils eigenem Stil und eigener Denkweise. Was die Menschen, gleich welchen Standes, aber verbindet, ist die Sehnsucht nach Tyll, nach seinem schonungslosen Zynismus und seinen rücksichtslosen Späßen: „…und so rief es bald von überall und mit vielen Stimmen: «Tyll ist hier!», «Tyll ist gekommen!», «Schaut, der Tyll ist da!» Es konnte kein anderer sein.“.

Es scheint, als wäre es gleich, wer genau er ist, ob er der „echte“ Till oder ob er 200 Jahre zu spät ist, die Menschen dieser dunklen Zeit brauchen ihn. Einen, der die kleinen Leute auf den Arm nimmt und die Mächtigen als komische Wichte enttarnt. Und so zieht Tyll durch das zerstörte Europa und bereitet die Bühne für die eigentlichen Hauptfiguren des Romans: den böhmischen Winterkönig, Pfalzgrafen Friedrich V. und seine britische Gemahlin, Elisabeth Stuart. Das Paar, mit denen der Krieg und aller Schlamassel begann.

Wie Tyll auf seinem Seil über den Köpfen der Menschen schwebt der Roman zwischen Realität und Fiktion. Kehlmann schreibt, wie meist, kühl und nüchtern. Die Beschreibungen dieser schrecklichen Zeit voller Krieg, Hunger und Krankheit kommen deshalb wie durch jahrhundertealtes Milchglas daher. Die historische Realität verschwimmt und entwickelt in Kehlmanns Beschreibungen eine teilweise bizarre Eigendynamik.

Sie nimmt, wie der Dreißigjähriger Krieg, der mit der Frage nach dem rechten Glauben begann, unbeherrschbare Züge an: „Macht, was ihr wollt, hat der General gesagt. Man schafft das nicht gleich, weißt du, muss sich erst dran gewöhnen, dass man das wirklich darf. Dass das geht. Mit Menschen machen, was man will.“

Auch die Antwort auf die Frage nach dem Auslöser des Krieges wird unklar: war es der frisch gekrönte böhmische König, quasi aus Versehen, oder doch die Idee seiner Gemahlin Elisabeth? Der Winterkönig und seine Frau haben überhaupt völlig verquere Ansichten ihrer gemeinsamen Erlebnisse, ob es nun der Beginn des Krieges oder die Hochzeitsnacht ist. Historische Begebenheiten verlieren sich in subjektiven Berichten und Rätseln, die dazu verleiten, das nächste Geschichtsbuch in die Hand zu nehmen und alles noch einmal genau nachzulesen.

Und am besten wird es dann, wenn das Verschwimmen der Historie auf unterhaltsame Weise ganz abgelöst wird vom literarischen Erzählen. So wie bei der absurden Drachensuche des selbsternannten Universalgelehrten Athanasius Kircher, die am Ende des Buches wieder aufgegriffen wird und das Buch, ebenso wie seine Titelgestalt, unberechenbar werden lässt.

Dann ist da wieder das Magische, wie so oft in Kehlmanns Romanen und hier auf wunderbare Weise verknüpft mit der Denkweise der Menschen. Es gibt verwunschene Wälder, Hexen, Wölfe und Dämonen. Im Wald haust das „Kleine Volk“ und dort passiert Übernatürliches. Tyll verliert als kleiner Junge alleine im Wald den Verstand. Man findet ihn auf dem Baum hängend, nackt und weiß bestäubt mit Mehl. Der Esel ist tot, seine Ohren trägt Tyll als Prototyp der Narrenkappe auf dem Kopf.

Das literarische Spiel mit historischem Realismus und Fiktion macht großen Spaß und zeigt: historische Realität gibt es auf literarischer Ebene nicht. Diese „Unmöglichkeit des historischen Erzählens“ (www.standard.at) wird im Buch selbst thematisiert.

Ein Nachfahre des Minnesängers Oswald von Wolkenstein berichtet von Vergesslichkeit und der Aussichtslosigkeit, Erlebnisse sprachlich adäquat auszudrücken. Er stellt fest, „dass das alles in seinem Buch einst anders berichtet werden müsste. Keine Beschreibung würde ihm gelingen, denn alles würde sich entziehen, und die Sätze, die er formen konnte, würden nicht zu den Bildern in seinem Gedächtnis passen.“

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